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Internationale Corona-Policies: Der Versuch einer Kategorisierung

Leeres Gleis

19.03.2020, von Matteo Mattmann

Expertisefelder Regulierung, Gesundheit

In vielen Bereichen wägen wir tagtäglich unsere Gesundheit gegen ökonomische und andere Interessen ab. Ein typisches Beispiel umfasst den Strassenverkehr: Nach wie vor stirbt rund jeden Tag eine Person bei einem Verkehrsunfall in der Schweiz. Offensichtlich wird hier der Nutzen des Verkehrs – aus ökonomischer Sicht oder unter Komfortaspekten – höher gewichtet als die rund 300 Menschenleben pro Jahr. Auch in punkto Ernährung verhalten wir uns oft gegen unsere Gesundheit: Wir essen zu süss, zu fettig, zu salzig und, vor allem, zu viel und trinken dazu gerne auch das eine oder andere Glas Wein. Möglicherweise rauchen wir auch. Wir tun dies, obwohl wir uns den gesundheitlichen Konsequenzen bewusst sind.

Obwohl dies für viele Menschen nur schwer zu akzeptieren ist (denn: «ein Menschenleben hat keinen Preis»), wägt auch die Politik unsere Gesundheit ständig gegen ökonomische Überlegungen ab: Wie viel darf unser Gesundheitssystem kosten? Wie viele Mittel wollen wir für Unfallpräventionskampagnen ausgeben? Wie strikt sollen unsere Richtlinien für Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft sein? Was sind unsere Ozon-Grenzwerte im Sommer? Und was tun wir bei Überschreitung der Grenzwerte? Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen.

Wie hängt das mit der Corona-Krise und ihrer Bekämpfung zusammen? Trotz der unterschiedlichen Massnahmen in ihrer Bekämpfung geht es im Kern auch hier um denselben Trade-off zwischen Gesundheit und Ökonomie. Dies wird klarer, wenn wir uns die verschiedenen Reaktionen der Länder auf die Krise genauer anschauen. Grob lassen sich diesbezüglich drei Kategorien an Policies unterscheiden:

  • «Eindämmung»: Durch radikale Massnahmen, wie etwa einem Verbot von Veranstaltungen, der Schliessung öffentlich zugänglicher Einrichtungen und, insbesondere, einer Ausgangssperre, wird versucht, die Verbreitung des Corona-Virus zu stoppen. Die Policy wird in China aber auch beispielsweise in Italien umgesetzt.
  • «Verflachung»: Diese Policy versucht die Infektionskurve der Neuansteckungen zu verflachen und über die Zeit zu verteilen (Stichwort: #flattenthecurve). Die Massnahmen sind ähnlich wie im Falle der «Eindämmung», üblicherweise allerdings weniger strikt und ohne eine Ausgangssperre. Viele Länder Europas, darunter die Schweiz, wenden diese Policy an.
  • «Kontrollierte Immunisierung»: Durch kontrollierte Immunisierung wird versucht, Teile der Bevölkerung mit dem Virus zu infizieren und dadurch zu immunisieren. Dabei werden Risikogruppen besonders geschützt, für die übrigen Teile der Bevölkerung gelten allerdings keine spezifischen Vorgaben. Kein Land hat diese Policy bisher konsequent umgesetzt, Ansätze davon lassen sich aber in Grossbritannien und in Schweden erkennen.

 

Neben unterschiedlichen Massnahmen unterschieden sich die drei Policies insbesondere bezüglich einer impliziten Entscheidung über den zugrundeliegenden Trade-off zwischen Gesundheit und Ökonomie. Während unter der Policy «Eindämmung» vermutlich mit den gravierendsten ökonomischen Folgen aber den geringsten gesundheitlichen Konsequenzen zu rechnen ist, hat die Policy «Kontrollierte Immunisierung» die geringsten ökonomischen aber – mit hoher Wahrscheinlichkeit – die gravierendsten gesundheitlichen Folgen. Die Policy «Verflachung» liegt dabei in der Mitte der Optionen: Die ökonomischen Folgen werden hoch aber wohl geringer sein als unter kompletter Eindämmung. Gesundheitlich sind die Auswirkungen wahrscheinlich gravierender als unter einer Eindämmung, sie fallen wohl aber geringer aus im Vergleich zu einer kontrollierten Immunisierung.

Die Implikationen dieses Trade-offs für politische Entscheidungsträger sind vielfältig: Einerseits sollte die Wahl einer Policy in Bewusstsein der zugrundeliegenden Abwägung zwischen Gesundheit und Ökonomie vorgenommen werden. Dabei können (und sollten) die Präferenzen der Bevölkerung berücksichtigt werden. So ist es wohl nicht unbedingt Zufall, dass das wirtschaftsliberale Grossbritannien Massnahmen in der Kategorie «Kontrollierte Immunisierung» versucht, während die konsensorientierte Schweiz den Mittelweg gewählt hat. Wichtig ist aber auch, dass die Wahl und Umsetzung einer Policy bereits so früh wie möglich, das heisst bestenfalls noch vor dem Auftreten der ersten Corona-Fälle, erfolgt. Denn die bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass sich der Spielraum an Möglichkeiten mit unkontrollierter Ausbreitung des Corona-Virus (also mit Ausbreitung ohne klarer Policy) reduziert, bis schliesslich nur noch die Eindämmung übrigbleibt – oder der Kollaps des Gesundheitssystems.

 

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